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picture alliance / ZUMAPRESS.com | Damian Klamka

Essay

Der Weg zum Holocaust

von Prof. Dr. Dieter Pohl
Der Weg zum Völkermord an der jüdischen Bevölkerung Europas nahm seinen Ausgang in einem in der deutschen und österreichischen Gesellschaft weit verbreiteten Antisemitismus. Schon ab 1933 wurde die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung von den Nationalsozialisten und ihrem Hilfspersonal erbarmungslos vorangetrieben, doch steckte dahinter kein Masterplan. Erst mit der Eroberung Polens 1939 zeichnete sich ab, dass man auch vor Massenmord nicht zurückschreckte und nach dem Einmarsch in die Sowjetunion wurden dann die Weichen für die totale Vernichtung gestellt. Die Mehrheit der nichtjüdischen Bevölkerung sah tatenlos zu, nicht wenige beteiligten sich nicht nur an der Ausraubung, sondern auch an den Massenverbrechen.

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Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas zwischen 1939 und 1945, der etwa 5,6 bis 5,8 Millionen Menschen zum Opfer fielen, war das radikalste Massenverbrechen der Geschichte. Nie zuvor und auch nie danach ist der Versuch unternommen worden, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe über einen ganzen Kontinent hinweg restlos auszurotten, frühzeitig gerade die Kinder darunter. Das nationalsozialistische Deutschland und seine Unterstützer betrachteten dieses Verbrechen als Beitrag zur Lösung eines angeblichen Menschheitsproblems, richtete dafür eigene Infrastrukturen wie Vernichtungslager ein und praktizierte den Massenmord bis zum letzten Tag seiner Existenz. Die Mehrheit der deutschen Gesellschaft, aber auch weite Teile der Bevölkerung im Ausland, sahen dem Verbrechen teilnahmslos zu, viele Menschen versuchten davon zu profitieren und beteiligten sich daran.

Die Kenntnis vom Massenmord verbreitete sich bereits während des Krieges, vor allem ab Mitte 1942, nicht nur in Deutschland und dem besetzten Europa, sondern weltweit. Seit dieser Zeit ist auch immer wieder versucht worden, eine Erklärung für diesen Zivilisationsbruch zu finden. Verschiedene Ursachen wurden identifiziert, ihre Gewichtung bleibt jedoch bis heute umstritten. Der Ausgangspunkt für alle Erklärungen muss ohne Zweifel der Antisemitismus sein, weil nur er die Bestimmung der Opfer und ihre Abgrenzung als Gruppe erklärt.

 

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Antijudaismus

Antijüdische Einstellungen gab es in Europa und im Mittelmeerraum seit der Antike, sie äußerten sich meist in Diskriminierungen und Einschränkungen der jüdischen Bevölkerung, oft in Vertreibungen, seltener in extremer Gewalt. Bei letzterem ist an die Pogrome während der Kreuzzüge, dann im Kontext der Pestepidemie des 14. Jahrhunderts, oder bei den Bauernaufständen in der Ukraine im 17. Jahrhundert zu denken. Schon damals wurde sichtbar, dass an vielen Orten eine völlige Vernichtung ganzer jüdischer Gemeinden beabsichtigt wurde. Freilich waren die gesellschaftlichen Kontexte und die Dimensionen ganz anders als im Zweiten Weltkrieg, und die jüdischen Gemeinden konnten sich von den Verlusten wieder erholen.

Der moderne Antijudaismus, nun mit dem etwas irreführenden Begriff Antisemitismus versehen, zeigte traditionelle wie auch neue Facetten. Weiterhin blieb die religiöse Ablehnung der jüdischen Bevölkerung in christlichen Gesellschaften bestehen, doch die kulturelle und vor allem die ökonomische Abgrenzung veränderten sich. Entscheidend für die Entwicklung antijüdischer Stereotypen im 19. Jahrhundert war der sozioökonomische Aufstieg der jüdischen Bevölkerung in den west- und zentraleuropäischen Gesellschaften, von einer Randgruppe in den Mittelstand und teilweise sogar in die Eliten. Dieser Aufstieg war durch die rechtliche Emanzipation einerseits als auch durch die Veränderungen der Industrialisierung möglich geworden. Juden galten nun als Konkurrenz, etwa in Freien Berufen wie der Rechtsanwaltschaft oder der Medizin, das vermeintlich „jüdische Finanzkapital“ wurde für Krisen und Ausbeutung verantwortlich gemacht.

Der kulturelle Antijudaismus, der zunächst noch deutlich religiös geprägt war, veränderte sich noch stärker. Durch die Akkulturation weiter Teile der jüdischen Bevölkerung war die kulturelle Abgrenzung der Minderheit nicht mehr äußerlich sichtbar. Dennoch wurden jüdische Akteure, die in den Medien oder der Kultur tätig waren, nun für die negativen Seiten der Moderne verantwortlich gemacht, den angeblichen Verfall der Sitten, die moderne Kunst und Musik, ja sogar die Pornographie, vor allem aber revolutionäre Umtriebe. Der Anteil von Juden und Jüdinnen in revolutionären Bewegungen, der ja durchaus prominent war, wurde besonders hervorgehoben. Daraus entwickelte sich eine besonders explosive politische Formel, jene vom vermeintlich „jüdischen Bolschewismus“, die im Umfeld der Russischen Revolution von 1905 durch die orthodoxe Kirche in die Welt gesetzt wurde.

 

Antisemitismus und Nationalismus

Eine besondere Sprengkraft erlangte der Antisemitismus schließlich durch den Aufstieg des Nationalstaats im 19. Jahrhundert. Er war vor allem in Deutschland sehr frühzeitig in der Nationalbewegung virulent, so etwa in den Burschenschaften. Aber auch in der liberalen Bewegung wurde immer wieder die Forderung nach Konversion laut. Kurzum, für viele in der Nationalbewegung galt die jüdische Bevölkerung als fremdes Element, das eigentlich nicht zur Nation gehört. Besonders deutlich wird dies in den völkischen Bewegungen, die sich seit den 1870er Jahren etablierten. Diese sahen die Nation weniger wie in Westeuropa durch Staatsbürgerschaft, sondern eher durch Herkunft als rein ethnisch begründet. Auch spielten hier organisch-biologistische Anschauungen, die zu dieser Zeit in der Öffentlichkeit boomten, eine große Rolle. Am weitesten gingen die rassistischen Antisemiten, die vom „jüdischen Blut“ fantasierten, dass auch durch Konversion zum Christentum nicht verschwinden würde. Hier war bereits die Brücke zum späteren nationalsozialistischen Rassismus geschlagen.

Auch der fundamentale Wandel des gesellschaftspolitischen Rahmens ist zu beachten: Die Situation der jüdischen Bevölkerung, deren Thematisierung bis ins 19. Jahrhundert hinein meist ein Randproblem der Politik darstellte, wurde nun zur „Judenfrage“ erhoben, die im rechten Spektrum der politischen Szenerie zunehmend eine zentrale Stellung einnahm. Es bildeten sich „Antisemitenparteien“, die völkische Bewegung machte sich bis in die Eliten breit, und auch gewichtige Interessenverbände wie die der Großagrarwirtschaft spielten auf der antisemitischen Klaviatur. Nicht selten kamen von dort Forderungen nach Einschränkungen für jüdische Aktivitäten, nach der Rücknahme der Emanzipation, bisweilen sogar nach der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung. Oft verbanden sich solche Programme auch mit Forderungen gegen andere Minderheiten, etwa die polnische Bevölkerung im Deutschen Reich.

Radikalisierung seit 1914

Die nächste nationale Krise stand jedoch unmittelbar bevor, der Erste Weltkrieg. Während jüdische Männer sich überdurchschnittlich oft freiwillig an die Front meldeten und auch überdurchschnittlich dort ihr Leben lassen mussten, breiteten sich Gerüchte über angeblich Drückeberger unter den Juden aus. Schließlich führte das preußische Heeresministerium eine inoffizielle „Judenzählung“ in der Armee durch, die erste staatliche antisemitische Maßnahme seit einem Jahrhundert. Ein radikaler Nationalismus gewann während des Krieges ohnehin an Boden; freilich wurde antisemitische Propaganda von der Kriegszensur weitgehend unterbunden.

Mit der deutschen Kriegsniederlage 1918 brachen dann alle Dämme. Auch bürgerliche konservative Kreise machten die jüdische Bevölkerung für die Kriegsniederlage und die anschließende Demütigung durch den Vertrag von Versailles verantwortlich. Zwei weitere, besonders gefährliche antisemitische Diskurse gewannen nun an Bedeutung: Angeblich seien „die Juden“ für die kommunistische Revolution in Russland verantwortlich, wie auch für die blutigen Revolutionsversuche andernorts, etwa die Münchener Räterepublik. Tatsächlich unterstützte nur eine verschwindend kleine Minderheit der jüdischen Bevölkerung den Kommunismus direkt. Zudem kursierte die Verschwörungstheorie, jüdische Eliten würden insgeheim die Weltherrschaft anstreben. Als Beweis musste die üble Fälschung der „Protokolle der Weisen von Zion“ herhalten.

In der Stimmung der Nachkriegsjahre bis 1923, als nationale Demütigung, Verlust der alten Ordnung und Orientierungslosigkeit, aber auch Wirtschaftschaos und Hyperinflation herrschten, blühte der Antisemitismus in Deutschland. Einen Höhepunkt stellen die Morde an Rosa Luxemburg oder Walther Rathenau dar, doch auch das allgemeine Klima des christlich-jüdische Verhältnisses verschlechterte sich, was viele Juden und Jüdinnen spürten.

 

Aufstieg der NSDAP

In dieser Konstellation entstand 1919/20 in München die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, die sich den Antisemitismus an zentraler Stelle in ihr Programm schrieb. Die NSDAP war anfangs eine kleine rechte Splittergruppe in einem breiten Spektrum von Organisationen, die die Weimarer Republik bekämpften. Sie breitete sich zunächst nur in Bayern und Österreich aus, machte aber dann 1923 durch den spektakulären Hitler-Putsch auf sich aufmerksam. Es folgte ein Parteiverbot, ab 1925 begann die Neuorganisation, nun im ganzen Deutschen Reich. Die Weimarer Republik stabilisierte sich zwar nach 1923, doch der Antisemitismus hatte sich fest eingefressen. Die Universitäten wurden inzwischen weitgehend von völkischen Studentenorganisationen dominiert, die rechtskonservative und völkische geprägte Deutschnationale Volkspartei hatte sogar schon einen sog. „Arierparagraphen“ eingeführt. Die Stunde der Rechten schlug dann 1930, mit der Weltwirtschaftskrise und der Lähmung der parlamentarischen Demokratie. Die NSDAP stieg nun zu einer der größten politischen Parteien auf und saugte quasi das rechte Spektrum allmählich in sich auf.

Freilich veränderte sich die Situation mit dem 30. Januar 1933 fundamental. Die Nationalsozialisten und ihre konservativen Koalitionspartner setzten binnen kurzem die Grundrechte außer Kraft, SA und kleine Nazis infiltrierten Polizei und Verwaltung, viele Konservative liefen mit fliegenden Fahnen zur NSDAP über. Nun war eine Partei an die Macht gekommen, für die die Bekämpfung der Juden ein zentrales Ziel darstellte. Dabei wurde einerseits wurde der jüdischen Bevölkerung durch Gesetze und Erlasse das Leben schwer gemacht, zugleich drangsalierten SA und NSDAP-Mitglieder die Menschen im Alltag, etwa durch Boykottmaßnahmen oder durch Gewaltakte.

 

Ausgrenzung und Kriminalisierung

Im Kern bestand bei diesen Maßnahmen Einigkeit zwischen der NS-Führung und ihren konservativen Koalitionspartnern, die Hitler 1933 mit zur Macht verholfen hatten. Die Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerungsgruppe sollte wieder aufgehoben werden. Doch Hitler und seine Anhänger wollten mehr, sie strebten eine Entfernung der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland an, und zwar inklusive jener Personen, die vom Judentum zum Christentum konvertiert waren, aber aus nationalsozialistischer Sicht als sogenannte „Rassejuden“ galten. Und tatsächlich flohen bald nach der Machtergreifung und der Terrorwelle des Jahres 1933 Zehntausende von jüdischen Deutschen aus dem Land. Doch schon im Laufe des Jahres 1934 sank die Zahl der Auswanderungen. So herrschte in der NS-Führung Unzufriedenheit über den schleppenden Verlauf der antijüdischen Maßnahmen, und viele nationalsozialistische Aktivisten vor Ort beschwerten sich. Zwar zeigte das Regime 1935, dass es die antijüdische Politik forcieren wollte und erließ die Nürnberger Gesetze, die die jüdische Bevölkerung zu Menschen zweiter Klasse machten. Man kann davon ausgehen, dass dies nicht nur von den Nationalsozialisten gutgeheißen wurde, sondern auch in der breiten Bevölkerung Anklang fand, da vermeintlich gesetzliche Regelungen als geeignetes Mittel erschienen. Offene Gewalt, wie sie von einzelnen nationalsozialistischen Gruppen gefordert und vereinzelt auch ausgeübt wurde, erschien dagegen weniger opportun.

Nach 1936, als die Olympischen Spiele in Berlin vorbei waren, bahnten sich jedoch eine Reihe von Veränderungen in der Verfolgungspolitik an.  Nachdem die politische Opposition weitgehend mundtot gemacht worden war, entwickelten Gestapo und Sicherheitsdienst (SD) ein weiter gehendes Feindbild, es sollten nun nicht mehr nur politische Gegner verfolgt werden, sondern jeder, der aus rassistischer Sicht schädlich für das nationalsozialistische Deutschland sei. Darunter verstanden die Funktionäre nicht nur Juden, sondern in zunehmendem Maße auch Sinti und Roma, daneben sogenannte Asoziale, oft Dauerarbeitslose oder Obdachlose, oder sogenannte Berufsverbrecher, also mehrfach Vorbestrafte. Zugleich bereitete sich Hitler seit 1936/37 auf den Krieg vor, den er führen wollte. Zur Kriegsvorbereitung gehörte für die NS-Führung aber nicht nur die Aufrüstung und Diplomatie, sondern auch die Ausschaltung jeglicher vermeintlichen Feinde im Innern.

Deshalb begann die SS 1936/37 mit der Errichtung neuer großer Konzentrationslager in Buchenwald und in Sachsenhausen. Schon 1938 füllten sich die neuen Lager, nach systematischen Verhaftungsaktionen gegen „Asoziale“, gegen Sinti und Roma, auch gegen Juden, die man kriminalisiert hatte. Zudem kamen im Frühjahr 1938 zahlreiche Österreicher in die KZ, die nach dem „Anschluss“ verhaftet worden waren, im Herbst 1938 auch sudetendeutsche Sozialdemokraten.

Antijüdische Ausschreitungen und Terror

Dies alles sollte man berücksichtigen, wenn man die Eskalation der Judenverfolgung im Jahre 1938 betrachtet. Eine deutliche Radikalisierung brachte der schon erwähnte „Anschluss“ Österreichs im März 1938. Dieser war von zahlreichen antijüdischen Ausschreitungen begleitet, insbesondere auch den berüchtigten „Reibpartien“ in Wien, Demütigungsaktionen, bei denen Juden vor johlenden Zuschauern die Straßen mit Händen oder kleinen Bürsten reinigen sollten. Die österreichischen Nazis, die lange in der Illegalität oder gar in Haft verbracht hatten, entfesselten eine Welle von Gewalt und Plünderungen. Zehntausende Menschen bemühten sich um die sofortige Ausreise. SD und Gestapo errichteten zu diesem Zweck eine Auswanderungs-Zentralstelle, in der die Juden in einem entwürdigenden Verfahren alle bürokratischen Prozeduren zur Auswanderung durchlaufen mussten. Diese Organisation wurde zum Nukleus des sogenannten Judenreferats von Adolf Eichmann, das später die Deportation von Juden aus ganz Europa nach Auschwitz koordinierte. Noch 1938 wanderte über die Hälfte der 200.000 Menschen zählenden jüdischen Bevölkerung Österreichs aus. Deutlich anders sah es in Deutschland aus, hier war der Umfang der Auswanderungen deutlich gesunken, einige kehrten sogar wieder nach Deutschland zurück.

In den NS-Organisationen in Deutschland herrschte nicht nur Unzufriedenheit darüber, dass die jüdische Bevölkerung das Land noch nicht verlassen hatte, sie konnte sich immer noch, wenn auch in stark eingeschränktem Maße wirtschaftlich über Wasser halten. Auch Hitlers Kriegspläne erlitten einen Rückschlag: Er provozierte die Krise um das Sudetenland, um einen Vorwand für einen Angriff auf die Tschechoslowakei zu haben, doch die Intervention der Großmächte vereitelte diesen Plan. Freilich zwangen England und Frankreich die Tschechoslowakei im Münchener Abkommen dazu, das Sudetenland an Deutschland abzutreten.

Dies alles stellt den Hintergrund dar, vor dem es im November 1938 zum großen Pogrom im Reich, der sogenannten Reichskristallnacht kam. Das Attentat eines polnischen Juden auf einen deutschen Diplomaten in Paris rief alle NS-Organisationen auf den Plan, noch am 7. November begann die NSDAP in Hessen mit Ausschreitungen, zwei Tage später organisierte die NSDAP-Führung einen reichsweiten Pogrom. Das Ausmaß der Zerstörung war gigantisch, über 1400 Juden im Reich verloren ihr Leben, bei Morden, durch Selbstmord, oder weil sie zu jenen 28.000 jüdischen Männern gehörten, die sofort in die KZ eingewiesen wurden. Aus Sicht der NS-Führung hatten die Ausschreitungen ihr Ziel erreicht: die Auswanderung nahm wieder deutlich zu. Zugleich wurden jüdische Unternehmen nun mit einem Schlag aus der Wirtschaft ausgeschlossen, weit unter Wert verkauft oder ausgeschlachtet und geschlossen.

 

Wende zum Massenmord

Das Jahr 1938 zeigte nach Einschätzung der Geschichtswissenschaft jedoch noch nicht an, dass die Judenverfolgung auf einen Massenmord zulief. Dazu brauchte es vielmehr noch einiger anderer Faktoren, die sich erst danach herausschälten. Entscheidend hierfür war Hitlers Krieg, ein Krieg, den er von Anfang an wollte, der sich jedoch anders entwickelte als er es geplant hatte.

Der Angriff auf Polen am 1. September 1939 brachte für die nationalsozialistische Verfolgungspolitik die Wende zum Massenmord. Doch es traf weniger die jüdische Bevölkerung Polens. Vielmehr begannen SS- und Polizeieinheiten damit, noch während des kurzen Feldzuges systematisch Angehörige der sogenannten polnischen Intelligenz, vor allem Priester, Lehrer und andere Akademiker ausfindig zu machen und zu erschießen. Fast gleichzeitig wurde im besetzten Polen und im Reich damit begonnen, Insassen psychiatrischer Anstalten zu ermorden. Schließlich wurde im September 1939 noch ein drittes monströses Gewaltprogramm entwickelt. Die Gebiete im Westen und Norden Polens sollten dem Reich angeschlossen und „eingedeutscht“ werden. Dazu plante man die Abschiebung der gesamten jüdischen und der unerwünschten Teile der christlichen Bevölkerung Polens ins deutsch besetzte Zentralpolen. Und tatsächlich begannen noch im Winter 1939/40 Massendeportationen, meist unter verheerenden Umständen. Die Juden sollten an die Ostgrenze des deutschen Besatzungsgebietes kommen, in ein sogenanntes Reservat im Raum Lublin. Zwar wurden insgesamt über 300.000 Menschen – meist Christen – in Güterwagen nach Osten verfrachtet, das Großprogramm scheiterte jedoch.

Sieht man sich jedoch die Lage der Juden unter deutscher Herrschaft an, so zeichnete sich eine weitere Stufe der Radikalisierung bereits ab. Die Situation im Reich verschlechterte sich kontinuierlich mit immer neuen Schikanen. Inzwischen waren zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung ausgewandert, viele der Exilanten wurden jedoch wieder von deutschen Truppen eingeholt, etwa bei der Besetzung Westeuropas im Mai 1940. Die Verbliebenen waren meist älter oder alleinstehend, und von der Fürsorge abhängig. Jüngere Juden wurden bereits zu Zwangsarbeiten herangezogen; bald begann die Gettoisierung in sogenannten Judenhäusern.

 

Beginn des Völkermords in Polen

Für die Gesamtentwicklung der Judenverfolgung war jedoch entscheidend, dass mit dem Krieg gegen Polen, dann gegen Westeuropa sich die Zahl der jüdischen Bevölkerung unter deutscher Herrschaft vervielfachte, allein in Polen gerieten im September 1939 zwei Millionen Menschen jüdischer Herkunft unter NS-Besatzung. Schon bis Ende 1939 waren auch einige Tausend Juden Opfer der zahlreichen Massaker geworden, Zehntausende wurden aus ihren Heimatorten vertrieben. Deutsche Stellen behandelten die sogenannten Ostjuden deutlich schlechter als jene im Reich, sie galten als kulturell fremd, ihre Lebensverhältnisse waren meist ärmlich und wurden als unzivilisiert, schmutzig und verseucht angesehen. Zudem herrschte im besetzten Polen ein rechtsfreier Raum, Misshandlungen oder gar Tötungen durch deutsche Funktionäre selbst auf offener Straße wurden kaum geahndet.

Vor allem aber galten die Juden und Jüdinnen in Polen aus deutscher Sicht als besonderes „Problem“, sie machten zehn Prozent der polnischen Bevölkerung aus, viele Städte wurden von deutschen Besatzern als „verjudet“ bezeichnet. Zwar bemühte sich die deutsche Besatzung darum, die jüdische Bevölkerung abzuschieben, etwa in eine Art Sterbereservat, aber dies scheiterte weitgehend. Nach dem militärischen Sieg über Frankreich fantasierte man in Berlin gar von Schiffsdeportationen auf die französische Kolonialinsel Madagaskar. Dazu wäre jedoch ein Sieg über die Seemacht England nötig gewesen.

Deshalb entschied die deutsche Besatzung, als eine Art Zwischenlösung Gettos in Polen einzurichten. Zunächst ergriffen einige lokale Funktionäre die Initiative, 1940/41 wurden dann flächendeckend jüdische Zwangsviertel in polnischen Städten eingerichtet, meist in Straßenzügen mit schlechter Infrastruktur, immer wurden die Juden und Jüdinnen jedoch dazu gezwungen, auf engstem Raum zu leben. Es verstand sich aus Sicht der Besatzer von selbst, dass die Menschen, die man durch die Gettoisierung enteignet hatte, nur ganz minimal versorgt werden sollten, mit Nahrung, mit Medizin, im Winter mit Heizmaterial. Die Folgen waren absehbar: Insbesondere im größten Getto in Warschau brach im Winter 1940/41 eine Fleckfieberepidemie aus, die bald jeden Monat tausende Menschen das Leben kostete. Der Völkermord war also bereits schleichend in Gang gekommen, bevor Deutschland die Sowjetunion angriff.

 

Vernichtungskrieg und Massenmord

Der Krieg gegen die Sowjetunion war zweifellos der zentrale Wendepunkt hin zum systematischen Massenmord an der jüdischen Bevölkerung. Doch auch hier muss man genauer hinsehen, will man die verschiedenen Fäden entwirren, die letztlich dazu geführt haben. Wie so oft im „Dritten Reich“, war es eben nicht der eine Masterplan oder die ein Entscheidung Hitlers, die alles regelten. Zunächst bestand im Frühjahr 1941, als der Krieg vorbereitet wurde, unter den NS-Funktionären Einigkeit darüber, dass das sogenannte Judenproblem inzwischen sehr dringlich sei und „gelöst“ werden müsse. Intern spekulierte man, die jüdische Bevölkerung unter deutscher Herrschaft könnte in die neu besetzten sowjetischen Territorien, etwa in Sumpfgebiete oder ans Eismeer, deportiert werden.

Von ganz entscheidender Bedeutung war jedoch, dass der Krieg gegen die Sowjetunion nicht als herkömmlicher Krieg geplant wurde, sondern als Vernichtungskrieg. Das Sowjetsystem sollte dadurch geschwächt werden, dass man seine Funktionäre, soweit sie ergriffen werden könnten, in einem rechtsfreien Raum ermordete. Dies erachteten Staats- und Militärführung auch deshalb als notwendig, weil für die Beherrschung eines so riesigen Gebiets wie die besetzten Teile der Sowjetunion nicht genügend Truppen zur Verfügung stünden und die Gefahr groß sei, dort auf Widerstand zu treffen. So erließen Hitler und die Militärführung eine Reihe von Befehlen, die diesen Gewaltaktionen den Weg bereiteten.

Aus Sicht sowohl der Nationalsozialisten als auch weiter Teile der Deutschen spielten die sowjetischen Juden eine zentrale Rolle im bolschewistischen System, ja sie seien geradezu die soziale Basis des „jüdischen Bolschewismus“. Deshalb wurde vor dem Einmarsch angeordnet, dass spezielle SS- und Polizeieinheiten die vermeintlich gefährlichsten unter ihnen, zunächst vor allem jüdische Männer im wehrfähigen Alter, erschießen sollten.

So geschah es dann ab dem 22. Juni 1941 auch. Jeden Tag erschossen deutsche Einheiten, vereinzelt auch solche der Wehrmacht, jüdische Männer. Bald folgten Diskussionen darüber, was mit den zurückgebliebenen Frauen und Kindern geschehen solle; und sukzessive begannen die deutschen Mordkommandos ab August 1941 damit, auch diese zu ermorden. Etwa ab September 1941 massakrierten die SS- und Polizeieinheiten dann in den Städten, die neu besetzt wurden, sofort die gesamte jüdische Bevölkerung, soweit sie nicht geflüchtet war. Das größte dieser Verbrechen spielte sich Ende September 1941 in Kiew ab, in der Babyn Jar Schlucht.

Im Herbst 1941 war im Grunde das Schicksal aller europäischen Juden unter deutscher Herrschaft besiegelt. Zunächst scheiterten wieder die weitreichenden Planungen: da der Krieg gegen die Sowjetunion nicht, wie geplant, in acht bis zwölf Wochen weitgehend abgeschlossen werden konnte, galten die sowjetischen Gebiete nicht mehr als Raum für ein – wie auch immer geartetes – „Judenreservat“ für ganz Europa. Zugleich aber führten die Tötungskommandos in der Sowjetunion vor, dass eine andere sogenannte Lösung der Judenfrage möglich war, die direkte Ermordung.

Im Reich wie in den besetzten Gebieten meldeten sich nun Funktionäre, die eine Abschiebung der jüdischen Bevölkerung aus ihrem Hoheitsgebiet forderten, oder schon Vorschläge zur Ermordung etwa der angeblich arbeitsunfähigen Menschen machten. Der Schwerpunkt der Massenmorde verlagerte sich nun auf das besetzte Polen, wo mehrere Vernichtungslager eingerichtet wurden. Bereits Ende 1942 war die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in Polen, im Baltikum und der Sowjetunion ermordet, bis zum Kriegsende auch jene aus dem Deutschen Reich und den anderen besetzten Ländern.

Der Weg vom Beginn der Verfolgung zum systematischen Massenmord war kurz, letztlich nur acht Jahre von 1933 bis 1941. Erst der Einmarsch der Alliierten 1945 setzte der Gewalt ein Ende.

 

Dieter Pohl ist Professor für Zeitgeschichte mit besonderer Berücksichtigung Ost- und Südosteuropas an der Universität Klagenfurt. 

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GWHK
25. Januar 2022
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